(30. Januar 2009)
Johann Sebastian Bach:
Goldberg-Variationen BWV 988
Erläuterungen (Eckhard Jaschinski)
Bezeichnung (Titel)
Johann Sebastian Bach hat im Lauf von über 30 Jahren vier große Variationenwerke komponiert: die Kantate „Christ lag in Todesbanden“ BWV 4, die Passacaglia c-Moll für Orgel BWV 582, die Chaconne für Violine BWV 1004 und die sogenannten „Goldberg-Variationen“ für zweimanualiges Cembalo BWV 988. Dieser nicht von Bach selbst geprägte Begriff bezieht sich auf den Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg (1727-56). Auf dem Titelblatt des Erstdrucks steht hingegen: „Clavier Übung, bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen. Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget von Johann Sebastian Bach ...“
Den „Goldberg-Variationen“ gehen drei nummerierte Klavierübungen voraus: 1731: sechs Partiten (Suiten) für Cembalo (Teil I); 1735: Italienisches Konzert und Französische Ouvertüre (Suite) für Cembalo (Teil II); 1739: Choralvorspiele und Duette für Orgel (Teil III). Demzufolge wurden die Variationen später als Teil IV gezählt.
Grundsätzlich erinnert Bachs Sammlung an eine Suitensammlung seines Leipziger Vorgängers Johann Kuhnau (1660-1722), die 1692 in erster und 1726 in vierter Auflage erschien – vielleicht ein Ansporn für Bach, der den Titel Clavierübung von Kuhnaus Veröffentlichung übernahm.
Wenn die Goldberg-Variationen „denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertigt“ wurden, dann hat das Wort „Ergetzung“ sicher eine tiefere Bedeutung; denn es impliziert nicht nur einen würdigen Genuss, sondern auch eine spirituelle Erneuerung, eine Einstimmung auf die Mitarbeit am großen Werk Gottes. Der Gedanke, der sich hinter der „musikalischen Ergötzung“ verbirgt, hatte in Sachsen eine lange Tradition. Die durch und durch protestantische Vorstellung der „Ergötzung“ konnte mit Vokal- und Instrumentalmusik, aber auch mit Tastenmusik verbunden werden.
Biografischer Kontext
Bachs Arbeit an den Goldberg-Variationen und anderen Werken in den Jahren um 1740 erweckt den Eindruck, als hätte er sich bewusst in andere musikalische Richtungen orientiert. Mit diesen Werken konzentrierte er sich auf komplex kontrapunktische Klavierstücke und auf eine hochvirtuose Musik, was beides nicht viel mit der Kirche und seinen kirchlichen Aktivitäten zu tun hatte.
Die Goldberg-Variationen erschienen 1741 im Druck, kurz vor einer Reise Bachs nach Dresden. Der Besuch fand statt, nachdem sein Gönner, der Diplomat Hermann Carl von Keyserlingk (1696-1764), zum „Reichsgrafen“ ernannt worden war. Das muss ein günstiger Zeitpunkt für die Überreichung eines Exemplars der Variationen gewesen sein.
Umstritten ist, ob die Goldberg-Variationen tatsächlich im Auftrag Graf Keyserlingks komponiert wurden. Der erste Bach-Biograf, Johann Nikolaus Forkel (1802), erwähnt erstmals die Szene, nach der Keyserlingks Hauscembalist Johann Gottlieb Goldberg dem Grafen in schlaflosen Nächten solche Variationen vorspielen sollte. Vermutlich hatte Forkel diese Informationen von Bachs ältestem Sohn Wilhelm Friedemann (1710-84). Allerdings sind weder der Auftrag noch ein spezielles Widmungsexemplar belegt. Außerdem war Goldberg zur Entstehungszeit des Werks erst etwa 13 Jahre alt. Gleichwohl war die Musik dieser Variationen besonders geeignet für Friedemann, einen sehr gewandten Cembalisten und Organisten, der irgendwann auch Lehrer des jungen Goldberg war.
Möglicherweise wurde für Graf Keyserlingk ein Widmungsexemplar angefertigt. Es kann aber auch sein, dass Friedemanns Kunstfertigkeit eine Anregung für die Variationen war und dass er sie in späteren Jahren mit einer Legende umsponn. Bevor er Dresden 1746 verließ, wird er wohl irgendwann erfahren haben, ob Goldberg sie dem Grafen tatsächlich (nachts) vorspielte.
Aufbau und musikalische Konzeption
Die Goldberg-Variationen wurden wohl von den wesentlich früher entstandenen G-Dur-Variationen des bewunderten Johann Christoph Bach (1642-1703) beeinflusst, der seinem Werk ein ähnliches, wenn auch kürzeres Bassthema zugrunde gelegt hatte.
Die Goldberg-Variationen bestehen aus 32 Sätzen zu je 32 (oder 16) Takten und umfassen im Originaldruck 32 Seiten; aber die Sätze sind nicht – wie man vielleicht erwartet – in Zweier-, sondern in Dreiergruppen gegliedert. Jede Gruppe enthält einen Kanon, wobei das Intervall der Stimmen von Kanon zu Kanon wächst.
Etliche der Kanons bewegen sich innerhalb der nahezu unerträglich engen Grenzen einiger weniger gängig-traditioneller Harmonien, um doch zugleich irgendwie in eine unvertraute und unwiederholbare Klangwelt vorzustoßen.
Anstelle des zu erwartenden zehnten Kanons schrieb Bach ein Quodlibet, wie es die Bachs einst bei ihren Familientreffen gesungen hatten, in dem er zwei volkstümliche Lieder miteinander kombinierte. Das erste, „Ich bin so lang net bei dir g’west“, wurde traditionell als letzter Tanz an einem Abend gespielt und bezieht sich hier auf die Eröffnungsaria, die inzwischen eine volle, mit Variationen gefüllte Stunde zurückliegt und nun im nächsten Satz zurückkehrt, um das Werk zu beschließen. Das zweite Lied lautet: „Kraut und Rüben / haben mich vertrieben / hätt mein Mutter Fleisch gekocht / so wär ich länger blieben“. In Anbetracht der Anspielung des ersten Liedes kann es sein, dass Bach hier selbstironisch auf seine eigenen kontrapunktischen Ausschweifungen verweist: nachdem er dem „Fleisch“ des einfacheren Komponierens abgeschworen hat, werde er seinen Zuhörern nun weitere Komplikationen ersparen und auf einfache Weise Abschied nehmen. Die Verquickung dieser beiden Volkslieder – über der gleichen Basslinie wie alle anderen Variationen, ausgerechnet am Ende dieser langen, bravourösen Demonstration aller erdenklichen kontrapunktischen Künste – ist eine witzige Erwiderung auf all jene, die den Kanon als bieder und altbacken abqualifizieren wollten, und zugleich in sich wieder ein verblüffendes kontrapunktisches Kunstwerk.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hinter der 30. und letzten Variation die Bergamasca aus den Fiori musicali von Girolamo Frescobaldi (1583-1643) steckt.
Einschließlich der Kanons erscheinen die Variationen wie 30 unterschiedliche, aber in gleichem Maße stilisierte Tänze, die selbst da, wo sie archetypisch wirken, originell sind und nur gelegentlich (alla breve-Variationen) an vertraute Tänze erinnern.
Die Variationen sind durch komplexere Organisationsprinzipien strukturiert als alle vorausgegangenen Variationen von Bach oder anderen Komponisten, und sie haben mit sonstigen zeitgenössischen Sammlungen viel weniger gemein als die fast vierzig Jahre zuvor entstandenen a-Moll-Variationen BWV 989.
Die Wahl der Tonarten in Klavierübung I und II scheint planvoll vorgenommen worden zu sein. Die Tonartenfolge der Partiten B – c – a – D – G – e wird durch F-Dur im Italienischen Konzert logisch fortgesetzt. Das h-Moll der Französischen Ouvertüre liegt von F-Dur tonal so weit wie möglich entfernt. Außerdem beginnt die Suite nach der ersten Hälfte von Klavierübung I mit den punktierten Rhythmen einer französischen ouverture; ebenso beginnen in Klavierübung III und IV die Stücke nach der ersten Hälfte. Darüber hinaus bilden die jeweiligen Tonarten dieser „Ouverturen“ zwei Paare von Paralleltonarten (I und II: D-Dur und h-Moll; III und IV: e-Moll und G-Dur) sowie zwei Paare von Dominanten (I und IV: D-Dur und G-Dur; I und II: h-Moll und e-Moll). Rätselhaft bleibt, warum die vier Tonarten einander in Parallelen und in Grundton-Dominant-Paaren zugeordnet sind. Kann es sein, dass das paradigmatische Bassthema aus den Goldberg-Variationen deshalb gewählt wurde, weil es in einer Tonart stand, die den Zwängen eines umfassenden Gesamtplans entsprach?
Dass sich in der Mitte jedes Bandes der Klavierübung eine „Ouvertüre“ findet, wirft die Frage auf, wie sich eine solche Konzeption wohl entwickelte. Kam Bach auf diese Idee erst, nachdem er seine Erfahrungen mit Teil I gemacht hatte, woraufhin er die Stecher auch anwies, die Seiten zu zählen? Kam ihm im Fall der Goldberg-Variationen die Idee einer Einteilung in Dreiergruppen erst, als er schon mit der Niederschrift begonnen hatte, und war es nun ein Problem, alles auf 32 Seiten unterzubringen? Dass jeder dritte Satz ein Kanon ist, merkt der Zuhörer nicht unmittelbar, klingen doch einige der nicht in Kanonform geschriebenen Variationen irritierend kanonähnlich, und auch umgekehrt verhält es sich ähnlich.
Bei aller Komplexität gibt es ein auffälliges Detail, das so eingängig und „populär“ ist wie alles, was die neuesten Opern, Singspiele und Bühnenlieder auszeichnet: die einfache Phrasierung. Die Aria und (fast) alle 30 Variationen bestehen durchgängig aus zweitaktigen Phrasen, die geschickt kombiniert werden und zu einem ganzheitlichen Gefüge zusammenwachsen. Angesichts der Tatsache, dass jeder der 32 Sätze sich in zwei Hälften gliedert, die aus je 16 Takten bestehen, sollte man meinen, dass die Phrasierung in Doppeltakten der Komposition zum Verhängnis werden könnte, weil sie die Symmetrie zu weit treibt.
Die Formgebung der Goldberg-Variationen ist sowohl konzeptuell (Aria – 15 Variationen – Ouvertüre – 14 Variationen – Aria) als auch hörbar (allmähliches „Crescendo“ hin zu den Schlusssätzen).
Einzelheiten der Interpretation (Beispiele)
ARIA
Wenn die Aria der Goldberg-Variationen wirklich andante, dolce, piano, affettuoso und cantabile e tenero klingen sollte, wie sie heute meist gespielt wird, erscheint es merkwürdig, dass keine dieser Anweisungen in den Noten erscheint. Schließlich verwendet Bach alle genannten Begriffe (außer tenero) an anderer Stelle.
Wir heutigen Hörer sind so sehr daran gewöhnt, durch die Anfangstakte der Aria, gerade in ihrer Interpretation durch einen modernen Pianisten, in eine einzigartige kontemplative Welt enthoben zu werden, dass es schwierig ist, sich etwas anderes, eine eher „leichte und schertzhafte“ Vortragsweise, vorzustellen. Doch unmöglich ist es nicht.
VARIATIO 1
Gewöhnlich wird die erste Variation viel schneller gespielt als die Aria (Aria mit etwa 50 pro Viertelnote; Variatio 1 mit 80 bis zu 130). Eine alternative Interpretation bestünde darin, den 3/4-Takt der beiden Sätze tempomäßig in etwa gleich zu halten; das heißt: Aria zügiger als gewöhnlich, Variatio 1 erheblich langsamer. Dieses Grundtempo wäre auch auf alle anderen Variationes im 3/4-Takt anzuwenden. Dadurch erscheinen diese Sätze weniger virtuos. Selbstverständlich wird Variatio 25 langsamer gespielt, was die Bezeichnung adagio auch anzeigt. Gleiches gilt für die ebenfalls kantilenenhafte Variatio 13.
VARIATIO 16
Die 16. Variation nimmt eine besondere Stellung ein, denn als einzige vereinigt sie, im Ouvertürenstil, zwei verschiedene Elemente: (1) C (durchgestrichen), punktiert, 16 Takte; (2) 3/8, fugato, 32 Takte. Scheinbar weicht Bach hier also von der üblichen Struktur mit zwei gleichen Satzhälften ab. In der Musikpraxis hat sich daher ein Kontrast langsam – schnell eingebürgert mit der Folge, dass – im Gegensatz zu allen anderen Variationen – die zweite Hälfte merklich kürzer klingt als die erste. Das braucht aber nicht so zu sein, wenn man bedenkt, dass Bach am Anfang kein grave vorschreibt. Ferner behält er in dieser Variation genau dasselbe Akkordschema bei wie sonst, wenn im 3/8 jeweils zwei Takte als zusammengehörig betrachtet werden. Das Gleichgewicht ist wiederhergestellt, indem ein Ganztakt im C (durchgestrichen) ebenso lang dauert wie zwei Takte des 3/8. Diese Ansicht wird unterstützt von Bachs bemerkenswerter Schreibweise am Schluss der Variation: ein Takt im C (durchgestrichen).
VARIATIO 25
Als Ganzes sind die Goldberg-Variationen von einer Arie inspiriert, die als bewegende Sarabande darauf abzielt, eine neue, außergewöhnliche Stimmung hervorzurufen. In der Variatio 25, die unseren heutigen Ohren vielleicht als die ausdrucksstärkste erscheinen mag, ist diese Stimmung so deutlich zu spüren, dass man kaum noch wahrnimmt, wie kunstvoll sich das ausnimmt, was in den langsamen Sätzen italienischer Meister traditionell das Einfachste ist: der Begleitpart für die linke Hand. Hier, in Variatio 25, ist die Begleitung sehr durchdacht: Sie bereichert die Imitation, die Phrasierung, die Harmonie durch eigene Feinheiten und weist einen der schönsten chromatischen Quartgänge der Musikgeschichte auf.
VARIATIO 26
Ein 18/16-Takt findet sich bei Bach nur in den Goldberg-Variationen. Variatio 26 zeigt für die beiden Manuale eine ebenso reizvolle wie einzigartige Wechselwirkung von 18/16 und 3/4, wobei jeweils die ¾-Bewegung in ihrer punktierten Rhythmik an die Aria erinnert. Das natürliche Zeitmaß für den ununterbrochenen Strom der 18 Sechszehntel pro Takt nähert sich hier dem Tempo giusto („rechtes“, mittleres Zeitmaß) der Aria an. Einen Hinweis darauf, dass die Sechzehntel-Ketten als 3 x 2 und nicht als 2 x 3 aufzufassen sind, gibt Bachs Schreibweise der Achtelpausen im Schlusstakt.
VARIATIO 30
Die 30. Variation steht wie Variatio 9 und Variatio 21 im 4/4-Takt (C). Diese beiden wären im gemäßigten Tempo giusto zu spielen. Da es sich bei Variatio 30 jedoch um ein Quodlibet handelt, müsste hier das Tempo des Liedgesangs bestimmend sein, was eine etwas schnellere Ausführung bedeutete.
Zur Aufnahme mit zwei Clavichorden
Die erste Aufnahme der Goldberg-Variationen auf Schallplatte fand (vermutlich) 1933 statt: Wanda Landowska spielte ein Pleyel-Cembalo. In der Folgezeit wurde die Variationen einige hundert Mal aufgenommen, überwiegend entweder auf Cembalo oder Konzertflügel. Hinzu kommen Einspielungen mit Orgel, Streichtrio, Kammerorchester, Bläser, Saxophon-Quartett, Akkordeon, Lautenwerk, Gitarre und 2 Cimbalons. Eine Aufnahme mit Clavichord ist mir nur bekannt durch Jaroslav Tuma (2004). Meine Einspielung verwendet zwei Clavichorde, die aufeinandergestellt sind und so als Ober- bzw. Untermanual dienen.
1. (Untermanual:) Clavichord „Anthony Sidey“ (Heugel Tasteninstrumente): doppelchörig (pro Ton ein Saitenpaar); bundfrei; Tonumfang: C bis d3; angefertigt im Selbstbau 1977.
Anthony Sidey, Cembalobauer in Paris, erlernte sein Handwerk bei Arnold Dolmetsch in England. Er studierte Clavichorde der verschiedenen Epochen und hat schon eine ganze Reihe dieser Instrumente aus privaten Sammlungen und aus dem Musée Instrumental du Conservatoire National Supérieur de Musique in Paris restauriert. Nach solchen historischen Vorbildern ist auch dieses Instrument entworfen.
2. (Obermanual:) Clavichord „King of Sweden“ (Schwedenkönig) (Zuckermann Harpsichords International): doppelchörig; gebunden (2 bis 3 benachbarte Halbtöne teilen sich untereinander ein Saitenpaar); Tonumfang: C (mit kurzer Oktave) bis c3; angefertigt im Selbstbau 2002.
Das Instrument wurde als Rekonstruktion in Anlehnung an ein anonymes Originalinstrument gebaut, das aus dem Beginn oder der Mitte des 17. Jahrhunderts stammt und vermutlich in Deutschland entstanden ist. Da das Originalinstrument zeitweise im Besitz des schwedischen Königs war, erhielt es die Bezeichnung „Schwedenkönig“.
Ort und Zeit der Gesamtaufnahme: Sankt Augustin, November 2008.
Literatur
James R. Gaines: Das musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung. Frankfurt am Main (Eichborn Verlag) 2008
Clemens-Christoph von Gleich / Johann Sonnleitner: Bach: Wie schnell? Praktischer Tempo-Wegweiser mit 200 Übungen und Beispielen. Stuttgart (Urachhaus Verlag) 2002
Peter Williams: J. S. Bach. Ein Leben in der Musik. Berlin (Osburg Verlag) 2008
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