Eckhard Jaschinski
Ritual und Christentum. Die Bedeutung des Rituals für den christlichen Glauben aus katholischer Sicht, in: Martin Neuhauser (Hg.): Religion und Rituale. Akademie Völker und Kulturen 2009. Belrin – Münster 2009, 127-143
Übersicht
Vorbemerkung
1. JULIA – Sonntagseucharistie in einer Villa in Antiochia um 130
2. FELIX – Festliche Sonntagsmessfeier in der Marienkirche in Rom um 500
3. BRUDER AELRED – Konventamt am Patronatsfest einer englischen Benediktinerabtei nach 900
4. CLOTHILDE – Sonntagshochamt in der Kathedrale von Chartres um 1250
5. THOMAS – Anglikanischer Abendmahlsgottesdienst in England um 1600
6. CARL GOTTHELF GERLACH – Lutherischer Sonntagsgottesdienst in Leipzig im Herbst 1750
7. HATTIE JOHNSON – Sonntagsmesse einer afroamerikanischen Gemeinde in Chicago um 1970
Schlussbetrachtung
Fazit
Vorbemerkung
Christliches Ritual ist immer etwas Konkretes: Liturgie, gefeiert von lebendigen Menschen – mit ihren guten und weniger schönen Erfahrungen dabei. Diese Menschen haben einen Namen und sie feiern diesen Gottesdienst in einem bestimmten Lebenskontext. Sie sind in unterschiedlicher Weise am rituellen Geschehen beteiligt; aber alle können dem Ritus etwas Positives für ihr Glaubensleben abgewinnen. Das möchte ich im Folgenden veranschaulichen durch sieben erdachte Szenen: jeweils ein festlicher Gottesdienst. Das sind zwar Fantasieprodukte, doch bieten sie durchaus eine historisch zutreffende Beschreibung. Jeder der sieben Erzählungen schließe ich einige Folgerungen an.
1. Szene: JULIA – Sonntagseucharistie in einer Villa in Antiochia um 130
Stimmen aus dem Innenhof rissen Julia aus dem Tiefschlaf. Zuerst war sie verwirrt von dem Treiben draußen an ihrem Fenster. Dann fiel ihr ein, dass ja Sonntag war. An diesem Morgen sollte es eine weitere Zusammenkunft in der Villa ihrer Eltern in Antiochia geben.
Julia war an die vielen Leute in der Villa gewöhnt. Als sie noch sehr jung war, luden ihre Eltern oft zu ausgedehnten Partys ein, die sich bis tief in die Nacht hinzogen. Einflussreiche Freunde ihres Vaters, ehrenwerte Besucher und zuweilen ein berühmter Kampfwagenführer tafelten stundenlang und diskutierten ungelöste Probleme im Stadtrat oder hörten den Oden von Antiochias neuestem Dichter zu. Julia hatte die vielen Leute von ihrem Zimmer mit Blick auf den Innenhof oft beobachtet, und sie hatte sich alle nach Hause gewünscht, so dass sie schlafen gehen konnte. Doch vor vier Jahren, nach ihrem achten Geburtstag, hörten die lärmenden Nachttreffen in der Villa auf. Es war das Jahr, in dem sie und ihre Eltern getauft wurden. Jetzt kommen die vielen Leute nur noch sonntagmorgens zur Villa.
Das Ritual an diesem Morgen ist ihr vertraut. Nachdem Freunde und Fremde willkommen geheißen sind, wird die Gemeinschaft sich mit Anicetus, ihrem Bischof, im Garten versammeln. Das Treffen beginnt mit Neuigkeiten aus anderen Gemeinschaften. Manchmal gibt es traurige Nachrichten über einige, die wegen ihres Glaubens verhaftet oder sogar umgebracht wurden. Ein andermal gibt es Geschichten von wunderbaren Bekehrungen oder Heilungen. Nach diesen Glaubensgeschichten ruft Anicetus die Gemeinschaft zum Gebet auf. Dann setzen sie sich nieder und lauschen der Prophetin Cara.
Julia kennt die Geschichte genau, wie Cara dem Apostel Petrus begegnete, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie war von Geburt an blind, und viele meinten, Petrus würde ihr das Augenlicht zurückgeben. Doch Petrus erklärte Cara, nicht mit ihren Augen, sondern mit ihrer Stimme sollte sie Gott ehren. Von jenem Tag an lauschte Cara den Geschichten über Jesus und den Lehrbriefen seiner Anhänger. Als sie in Julias Alter war, hatte Cara alle Geschichten und Briefe auswendig gelernt.
Nach Caras Botschaft fragt Anicetus, ob jemand in der Gemeinschaft da sei, der die Lehre gehört hat und getauft werden möchte. Wenn es welche gibt, führt der Bischof sie zum Wasserbecken im Garten und befragt sie über ihren Glauben. Wenn genügend Anwesende deren Glauben und Tugendhaftigkeit bezeugen, tauft Anicetus sie gleich dort. Andere sind noch nicht zur Taufe bereit. Der Bischof umarmt sie und versichert ihnen, sie könnten immer gern wiederkommen, doch sie dürften für den restlichen Teil der Zusammenkunft nicht bleiben.
Wenn alle noch nicht Getauften aus dem Garten hinausbegleitet worden sind und das Tor geschlossen ist, betet die Gemeinschaft für die Notleidenden. Nach diesen Gebeten geben sie einander den Friedenskuss. Ein paar Männer bringen einen Tisch in den Garten, und Julias Mutter stellt Brot und Wein darauf. Anicetus tritt vor und betet über die Gemeinschaft und die Gaben. Julias Vater und Mutter assistieren am Tisch und helfen Anicetus beim Brotbrechen und Reichen des Weins an alle Mitfeiernden.
Nach dem heiligen Mahl erkundigt sich der Bischof nach denen, die bei der Versammlung fehlen. Philip und seine Frau Romana schreiben die Namen der Abwesenden auf und sorgen dafür, dass ihnen das heilige Brot gebracht und auch in ihren sonstigen Nöten für sie gesorgt wird. Am Ende des Gottesdienstes stimmt Cara oft einen Gesang an, in den die Gemeinschaft einfällt, bis dann alle auseinander gehen.
Folgerungen
Im zweiten Jahrhundert sind die christlichen Gemeinden noch klein. Sie begreifen sich als intensive Lebensgemeinschaften. Gottesdienst und Alltag sind eng miteinander verbunden: Nachrichten werden ausgetauscht; Krankenkommunion ist organisiert. Zur Feier der Eucharistie versammelt man sich nur sonntags, und zwar in der Privatwohnung von wohlhabenderen Christen. Der Gottesdienst hat eine klare Struktur mit Wortliturgie und Mahlfeier; die Gebetstexte werden frei improvisiert vorgetragen. Tätige Teilnahme an der Liturgie ist selbstverständlich; für die Taufbewerber (Katechumenen) gibt es aber Einschränkungen.
2. Szene: FELIX – Festliche Sonntagsmessfeier in der Marienkirche zu Rom um 500
Der achtjährige Felix ist überzeugt: er hat den besten Großvater von ganz Rom. Seinen Vater hat er nie gekannt, und er kann sich kaum an seine Mutter erinnern, die starb, als er drei Jahre alt war. Soweit er sich erinnern kann, ist Felix’ Großvater seine ganze Familie gewesen.
Heute am Sonntag wird in Opas Sandalenwerkstatt nicht gearbeitet. Es wird einen großartigen Gottesdienst in der Marienkirche auf dem Hügel geben. Als Enkel und Großvater dort ankommen, strömt bereits eine Menschenmenge in die Kirche. Viele sind auch schon drinnen und singen Lieder und Litaneirufe. Felix und sein Großvater können sich durch die Menge ihren Weg bahnen und erreichen die Schranke, die einen Gang zum Altar abgrenzt. Felix mag diesen Platz, weil die Schranke niedrig genug ist, dass er Arme und Kinn darauf legen und sich während des langen Gottesdienstes daran festhalten kann. Wenn er sich auf die Zehen stellt und seinen Hals reckt, kann er auf den offenen Gang herabsehen und die Handlung um den Altar beobachten.
Die Menschen stehen so dicht gedrängt, dass Felix und sein Großvater den hinteren Teil der Kirche nicht sehen können; doch Opa scheint stets zu wissen, wann es wieder losgeht. Er hat die bischöfliche Liturgie seit fast 50 Jahren besucht, und er kennt den Gottesdienst in- und auswendig.
Ein Subdiakon schlängelt sich, begleitet von einem Akolythen, durch die Menge. Der Akolyth hält vor sich ein wunderschönes Buch auf einem weißen Tuch. Während sie vorbeiziehen, kann Felix das Buch, seinen vergoldeten Deckel und die funkelnden Edelsteine mit ausgestrecktem Arm fast berühren. Er lehnt sich über die Schranke und sieht, wie sie das Buch zum Altarraum tragen, es auf den Altar legen und dann durch die Menge hindurch zurückkehren. Wenige Minuten später verlassen die Sänger, die seitlich am Altar standen, den Altarraum. Als sie losziehen, wird der Gemeindegesang leiser; denn die Leute merken, dass die Prozession beginnt.
Ein Gesang ertönt von der hinteren Kirche, „Introibo ad altare Dei“ – „Zum Altar Gottes will ich treten“. Zuerst wird der Kehrvers von einigen Sängern angestimmt, dann gleich von der gesamten Gemeinde übernommen, deren Stimmen im weiten Raum nachhallen. Der Männerchor, begleitet von Knaben, die nicht viel älter sind als Felix, singt Texte im Wechsel, während er durch die Menge hindurch zieht und innerhalb der Schranken ein Ehrengeleit bildet. Felix rutscht am Geländer hin und her und versucht durch die Chorsänger hindurchzublicken, die in zwei Reihen im Gang stehen, die Männer außen und die Knaben innen. Schließlich findet Felix eine Stelle ganz am Ende der Schranke, wo er einen ungehinderten Blick auf den Gang hat – und das gerade rechtzeitig. Eine Weihrauchwolke kündigt an, dass der Hauptteil der Prozession den Eingang der Kirche erreicht. Hinter dem Mann mit dem Weihrauch folgen sieben Fackelträger, ihre Gesichter gerötet von den lodernden Fackeln. Dann kommen die Subdiakone und die Diakone und am Ende der Prozession der Bischof.
Er ist ein alter Mann mit einem langen Bart, doch schreitet er zügig durch die Menge, grüßt die Leute und bleibt oft hinter dem begleitenden Erzdiakon zurück. Felix erstarrt, als der alte Mann auf ihn zukommt. Als die Menge sich teilt, um ihn in den Gang zu lassen, erblickt der Bischof Felix, wie er sich über den Schrankenrand lehnt, streckt seinen Arm aus und klopft ihm im Vorbeiziehen sanft auf den Kopf.
Es war ein langer Gottesdienst, doch Felix denkt nicht an die Einzelheiten zurück. Er denkt nicht mehr an den glänzenden Gesang des Evangeliums, das Sammeln der Gaben durch die Diakone oder die feierlichen Gebete. Er denkt nicht einmal an das Trinken aus dem goldenen Kelch. Nicht vergessen aber kann Felix den Moment, als der heiligmäßige Bischof Leo seine Hand ausstreckte und ihn segnete.
Folgerungen
Der römische Gottesdienst ist nach der Konstantinischen Wende formalisierter, sakraler und kunstvoller geworden. Die Rollenverteilung ist genau festgelegt und hierarchisch gegliedert.
Liturgische Akteure sind von den übrigen Mitfeiernden getrennt.
Es wird unterschieden zwischen freieren Andachtsformen des Volkes und der offiziellen Liturgie mit ihrem streng geregelten Ablauf.
Die Hochliturgie im großen Kirchenraum ist eine attraktive Massenveranstaltung der christianisierten Spätantike.
Die Christen sind fasziniert vom Zeremoniell des Heiligen Spiels, stehen zu ihm aber auch in einer gewissen Distanz.
3. Szene: BRUDER AELRED – Konventamt am Patronatsfest einer englischen Benediktinerabtei nach 900
Bruder Aelred hat vergessen, wie alt er ist. Auch sonst weiß es niemand im Kloster. Der Vermerk seines Eintritts in die Abtei ging 836 beim Großbrand verloren. Erblindet und gelähmt kann Aelred sich noch daran erinnern, dass er schon ein Mönch in Gelübden war, als 838 der Grundstein der neuen Kirche gelegt wurde. Das war vor fast 80 Jahren. Einige der jungen Mönche scherzen, „der alte Bruder Aelred hat sogar noch Sankt Benedikt gekannt“.
Aelred verbringt die meiste Zeit im Lehnstuhl am großen Fenster der Krankenabteilung und döst in die Sonne hinein. Geräusche aus den Werkstätten der Abtei, dem Refektorium und Kapitelsaal dringen durch das Fenster in die Krankenabteilung. Diese Geräusche sind Aelreds treue Begleiter. Die Glocken im Turm der Abteikirche sind besondere Freunde; sie rufen die Mönche zum Gebet, zu Mahlzeiten und zur Nachtruhe. Ob es nun die Glocken, Rufe im Kreuzgang oder Gesänge aus der Kirche sind – fast alles vom Kloster in dieser Zeit kennt Aelred nur über das Hören. Dies passt auch zu ihm als ehemaligem Chorleiter des Klosters.
Es ist spätnachmittags am Patronatsfest des Klosters. Aelred war eingenickt, während er auf den Gesang der Mönche zur Non hörte. Plötzlich weckt ihn ein kräftiger Arm an seiner Seite, und er weiß, dass Bruder Accadam – oder Bruder Ochs, wie Aelred ihn nennt – gekommen ist, um ihn zu Bett zu bringen. Zumindest vermutet Aelred dies. Doch anstatt Aelred zu seiner Zelle im Südkorridor zu bringen, schlägt Bruder Ochs den Weg zum Hauptkorridor ein und steigt dann die Treppe hinab in die Kirche. Bruder Aelred ist auf dem Weg zur festlichen Nachmittagsmesse am Patronatsfest.
Die Gesänge, die sich aus dem Abteichor erheben, treiben dem alten Mönch Tränen in die Augen. Gehunfähig seit fast zehn Jahren, kommt Aelred kaum noch zu den Mönchen im Chor. Nur bei bestimmten Anlässen erlaubt der Prior dem Bruder Accadam, den alten Mönch in die Kirche zu bringen. Vielleicht denkt der Prior, dies werde Aelreds letztes Patronatsfest mit ihnen sein. Aelred fragt nicht nach dem Grund, als der Ochs ihn sanft in das obere Chorgestühl sinken lässt. Aelred ist wieder in seiner geliebten Kirche.
Er kennt alle Gesänge auswendig. Der Introitus beginnt. Nach der Antiphon lässt der Chor Psalm 100 erschallen: „Iubilate Deo omnis terra, servite Domino in laetitia.“ [„Jauchzt vor dem Herrn, alle Länder der Erde, dient dem Herrn mit Freude!“] Mehr als 80 Stimmen vereinigen sich im Psalm, doch hört Aelred leicht die unsicheren Stimmen der Novizen heraus, die links gegenüber sitzen. Sie quälen sich durch den selten verwendeten feierlichen Ton. Aelred denkt an seine Zeit als Postulant und Novize, als er sich abquälte, vor seiner Profess alle Psalmen auswendig zu lernen.
Mit den Jahren lernte er nicht nur die Psalmen und ihre einfachen Töne, sondern auch Hunderte von anderen Melodien und Texten. Er lernte sie von Bruder Romanus, der in der Abtei Sankt Aposteln in der Ewigen Stadt zum Kantor ausgebildet worden war. Aelred war ein so guter Student gewesen, dass Bruder Romanus ihn gebeten hatte, die Laienbrüder in den einfachen Gesängen zu unterweisen. Und im Jahr, in dem der neue Chorraum eingeweiht wurde, als Bruder Romanus von Gott heimgerufen wurde, übernahm Aelred das Amt des Chorleiters der Abtei.
„Desiderium animae eius“ [„Du hast ihm den Wunsch seines Herzens erfüllt“] – das Offertorium reißt Aelred aus seinen Träumereien. Vater Abt muss jetzt am Altar stehen und Patene und Kelch emporhalten, die wundersamerweise vom Feuer verschont blieben. Aelred lächelt bei sich, als die Antiphon mit den Stimmen dieser Benediktsöhne erklingt. Welche Zeit und welcher Ort wären besser geeignet, das letzte Opfer darzubringen? „Posuisti in capite eius coronam de lapide pretioso“, singen die Mönche. „Du kröntest ihn mit einer goldenen Krone.“ Der Offertoriumsvers wird zum letzten Begleitwort des alten Mönchs.
Bevor die Schlusstöne im Gewölbe verklingen, erhält Aelred seine Krone der Herrlichkeit.
Folgerungen
Die Abtei des Mittelalters war ein in sich geschlossener Lebensraum und wirkte nach außen als kulturelles und geistliches Zentrum. Das Leben in der Abtei ist bestimmt von der Benediktsregel „ora et labora“ (bete und arbeite). Das gemeinsame Gebet teilt sich in Tagzeitenliturgie und Messfeier auf. Psalmengesang bildet den Hauptteil. Jeder Mönch hatte die Texte und Melodien des Gregorianischen Chorals auswendig zu lernen. Der Chorleiter war für verantwortlich die Genauigkeit und Qualität des Gesangs. Einheitlicher Gesang in einheitlicher Liturgie war das Bestreben der Karolinger im Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts.
4. Szene: CLOTHILDE – Sonntagshochamt in der Kathedrale von Chartres um 1250
Obgleich es Winter war und Clothilde die Feuchtigkeit auf dem Steinfußboden durch etliche Schichten von Kleidern spüren konnte, kam sie nie auf den Gedanken aufzustehen. Sie erinnerte sich daran, wie ihr als Kind beigebracht worden war, dass das Erheben der Hostie das heiligste Geschehen sei; selbst die Bäume verneigten sich fromm beim Emporheben der Hostie. Und, wie ihre Mutter oft sagte, wenn schon die Natur in all ihrer Pracht so Anteil nehmend war, dann sollte Clothilde als eines der geringsten Geschöpfe Gottes ebenso knien.
Nachdem der Priester die Hostie wieder auf den Altar gelegt und eine langsame Kniebeuge gemacht hatte, kam Clothilde nur mit Mühe auf die Beine. Das Knien und noch mehr das Aufstehen fielen ihr schwer. Sie ging weg vom Martinsaltar und ließ das Blut langsam in ihre schmerzenden Beine zurückfließen. Sie blickte ins Gewölbe, als die Sonnenstrahlen auf die Obergaden-Fenster der Südwand des Kirchenschiffs fielen. Schon tausendmal war sie hier gewesen, doch staunte Clothilde immer wieder über die wunderschönen Fenster und ihre vielfältigen Stimmungen im wechselnden Sonnenlicht. Als sie das Farbenspiel auf dem Stein sah, dachte sie an ihren Ehemann, der so viele Jahre an der Kathedrale gearbeitet hatte. Während er auf dem Dach im südlichen Querschiff arbeitete, passierte der tödliche Unfall. Wenn auch schon fast 30 Jahre seit seinem Tod vergangen waren, fühlte Clothilde doch stets eine besondere Nähe zu ihm, wenn sie in „ihrer beiden“ Kathedrale war.
Als sie von der Decke herabblickte, bemerkte sie ungewöhnlich viel Bewegung in der großen Kirche. Es gab immer hektische Betriebsamkeit in der Kathedrale, doch an diesem Sonntag schien besonders viel los sein. Dutzende von kleinen Gruppen drängten sich um die ungezählten Seitenaltäre und wohnten der Messe bei. Währenddessen zogen Hunderte von Besuchern aus nah und fern durch die Kathedrale und starrten das bunte Glas an oder kauften Kerzen von einem der vielen Stände entlang des südlichen Seitenschiffs, wo alles Mögliche verkauft wurde: von Heilkräutern bis zu Dreikönigsreliquien.
Wie alle Bürger von Chartres war Clothilde stolz auf die Kathedrale. Doch kostbarer noch als die Türme, die bunten Fenster oder das hohe Gewölbe war der Schleier der Jungfrau Maria. Dieser Umhang der Muttergottes hatte die Stadtbevölkerung angespornt, solch ein monumentales Gebäude zu errichten, und diese kostbare Reliquie diente als Ziel endloser Pilgergänge. Gerade jetzt bewegte sich eine große Pilgergruppe auf ihren Knien um die Arkaden zum Altar, wo der Umhang ausgestellt war.
Da kündigte die Glocke den Beginn der Bischofsmesse an. Clothilde wohnte selten der ganzen Messe bei, doch sie genoss die Eröffnungszeremonie. Sie konnte sehen, wie die lange Prozession aus der seitlichen Sakristei kam. Zuerst trat ein großer junger Mann aus der Tür, der das Bischofskreuz trug; es war mit seinem Wappen geschmückt. Eine Vielzahl von Sängern und niederem Klerus folgte. Nach den Priestern kamen die Kanoniker der Kathedrale, eingehüllt in mehrere Lagen von Purpur und Weiß. Am Ende der Prozession kam der Erzbischof mit Mitra. Als er vorbeizog, knieten die Menschen nieder, empfingen einen Segen von seiner verhüllten Hand, die mit einem großen Amethystring geschmückt war.
Die Begleitmusik zur Prozession war herrlich. Die Orgel spielte eine langsame, schlichte Melodie, die der Chor vielstimmig verzierte. Als der Introitus den Erzbischof in den Altarraum geleitete, wurden die Türen des großen Lettners hinter ihm geschlossen. Clothilde konnte die Musik auf der anderen Seite des Lettners noch hören, doch sie vermochte nicht mehr das Ritual zu beobachten. So war es auch gut, dachte sie bei sich, denn es war Zeit, ihren Pilgergang zum Schleier der Jungfrau Maria zu machen. Sie wandte sich vom verschlossenen Altarraum ab und eilte zur Marienkapelle. Schon als sie die Arkaden betrat, konnte sie die Einladung von weitem hören: „Ave Maria, gratia plena...“
Folgerungen
Der Innenraum der gotischen Kathedrale ist zweigeteilt: hinter dem Lettner befindet sich der Chorraum mit Chorgestühl, in dem die offizielle Liturgie für eine geschlossene Gruppe gefeiert wird; davor der offene Raum des Hauptschiffs ohne Bestuhlung. Dem lichtdurchfluteten, hoch aufragenden Kirchenraum entspricht eine ebenso erhabene Musik: die komplexe Mehrstimmigkeit der Notre-Dame-Schule. Die Laien nehmen nur eingeschränkt an der Liturgie teil. Statt des Empfangs des Leibes Christi genügt die Augenkommunion bei der Elevation im Hochgebet. Die Frömmigkeit hat weitgehend Privatcharakter angenommen: für die Kleriker ist es die Einzelzelebration am Nebenaltar, für die Laien die Verehrung von Reliquien und anderen sakralen Gegenständen.
5. Szene: THOMAS – Anglikanischer Abendmahlsgottesdienst in England um 1600
Thomas konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es jenseits des großen Lettners aussah. Es kam ihm jetzt komisch vor, im Chorgestühl zu sitzen, das er zuvor nur von fern erspähen konnte. Er dachte an den Gottesdienst, als King Henry († 1547) noch lebte. Einmal war der König selbst in die Kathedrale zur Messe gekommen. Es war eine glanzvolle Zeremonie! Überall gab es Banner und Amtsträger, mehr Kleriker und Soldaten, als Thomas je gesehen hatte, und ein Trompetenensemble auf der Empore.
Von jenem Tag war Thomas noch der große Steinlettner im Gedächtnis. Sechsjährig und kaum einen Meter groß, war ihm die Sicht auf den Festzug wegen der Menschenmenge versperrt. Er konnte nur flüchtige Blicke auf die Prozession der Kleriker und des Königshauses erhaschen, wenn sie sich durch das Kirchenschiff schlängelte. Dann verschwand sie hinter dem Lettner. Thomas sah nicht ein, dass das in Ordnung war. Er stand mit seinem Onkel Geoffry lange Zeit draußen vor dem Lettner und versuchte zu entdecken, was drinnen vor sich ging. Der kleine Tom konnte den Gottesdienst hören, doch er verstand ihn nicht. Onkel Geoff sagte ihm, er sei lateinisch. Für den jungen Tom hätte es genauso gut ägyptisch sein können. Es war jedenfalls nicht das Englisch des Königs. Tom fühlte sich betrogen, weil er den König und den königlichen Geleitschutz bei der Messe nicht beobachten konnte.
Die Dinge änderten sich jedenfalls nach dem Tod des alten Henry. Sobald der Knabe Edward den Thron bestieg, begannen die Neuerungen. Als Klerus und Volk sich an die neue Liturgie zu gewöhnen begannen, bestieg Bloody Mary († 1558) den Thron. Da „brach“, wie Onkel Geoff immer sagte, „die Hölle los“. Innerhalb weniger Jahre war die Messe wieder lateinisch. Diesmal wusste Thomas, dass es Latein war, und doch mochte er es nicht. Aber es gab viele, auch seine Mutter, die lieber die mysteriöse Sprache wollten. Warum – das verstand er nie. Zum Glück für Thomas dauerte dieser Zustand nicht so lange. Bloody Mary starb drei Jahre nach der Wiedereinführung der lateinischen Messe. Dann kam Elizabeth auf den Thron, und im Jahr darauf feierte man die Messe wieder auf Englisch. Was waren das für hektische Jahre!
Thomas mochte vieles an der neuen Liturgie, ungeachtet dessen, dass er sie nicht verstehen konnte. Seitdem er der Messe für King Henry beiwohnte, hatte er gegen den Lettner immer innerlich gekämpft. Er hätte gern gewusst, wie es hinter der steinernen Wand aussah, und er fragte seine Mutter, warum er bei den Gottesdiensten nicht hinter dem Lettner stehen konnte. Er versprach, still zu sein, dann würde ihn dort niemand bemerken. Nach den Gottesdiensten hatte Thomas manchmal die Sache selbst in die Hand genommen und sich an den Rand des Eingangs gestellt, wo er in den großen Chorraum blickte. Er gelangte niemals ganz hinein. Als er es einmal versuchte, wurde er vom Sakristan gleich zur Tür hinausgedrängt.
Thomas dachte an jenes Kindheitserlebnis gern zurück, jetzt, da er auf seinem Lieblingsplatz im Chorgestühl hinter dem großen Lettner saß. Statt während der lateinischen Messe im Kirchenschiff bei den anderen Leuten zu stehen, saß Thomas jetzt im Chorgestühl, wo er die neue Messe mitfeierte. Wie der alte lateinische so enthielt der neue Gottesdienst viele Gebete und Lesungen und eine lange Predigt. Er hatte jedoch nichts dagegen, weil er während des gesamten ersten Teils des Gottesdienstes sitzen konnte; dabei betrachtete er all die Schnitzereien in den Sitzen oder machte sich Gedanken über das eigenartige Gewölbe, das über dem Chor emporragte. Wenn er stehen oder knien musste, tröstete er sich in seinem hohen Alter mit den Holzstufen, die viel besser waren als der feuchte Steinboden des Kirchenschiffs. Alles in allem meinte Thomas, dass die Änderungen, die er im Lauf der Jahre erlebt hatte, zu begrüßen waren, wenngleich er noch gern seine Kinder mit Geschichten der großen Kathedrale aus seiner Kindheit verwöhnte.
Folgerungen
Von der Flut neuer Gottesdienstordnungen der Reformatoren auf dem europäischen Kontinent war auch die Kirche in England beeinflusst. Teils wurden Elemente der Straßburger Tradition übernommen; doch in der Abendmahlsliturgie wurde der abendländische Messtyp beibehalten. So brachte der Gottesdienst der Anglikanischen Kirche die Laien wieder näher an die liturgische Handlung heran: Die Abtrennung durch den Lettner fiel weg. Latein wurde durch die Volkssprache ersetzt. Die Zeremonien wurden vereinfacht, die Kommunion häufiger, auch aus dem Kelch; Gemeindegesang und Schriftpredigt erhielten stärkeres Gewicht.
6. Szene: CARL GOTTHELF GERLACH – Lutherischer Sonntagsgottesdienst in Leipzig im Herbst 1750
Es ist Sonntag sieben Uhr früh. Die Glocken der Thomaskirche läuten zum Gottesdienst. Carl Gotthelf Gerlach ist nun schon seit über 20 Jahren Organist an der Nikolaikirche. Der neue Thomaskantor, Gottlob Harrer, hat ihn gebeten, heute den erkrankten Organisten zu vertreten. Der sonntägliche Hauptgottesdienst in der Thomaskirche ist ein Großereignis, mit drei Stunden Dauer – auch zur Winterzeit in ungeheizter Kirche. So trifft man sich vor dem Sonntagsbraten in der Kirche zur Erbauung, Kommunikation und Unterhaltung. Auch heute wird wieder viel gesungen und musiziert werden. Da erklingt allerlei ältere Musik: gregorianische Gesänge, alte Motetten und die klassischen Kirchenlieder von Martin Luther, mit Orgelpräludium. Dazwischen werden Gebete gesprochen und aus der Bibel gelesen: Epistel und Evangelium. Die besondere Attraktion ist die „Hauptmusik“, eine moderne Kantate, die vor dem Glaubensbekenntnis angestimmt wird, gefolgt von einem zweiten Teil oder einer weiteren Kantate nach der Predigt. Auf eine einstündige Predigt folgen sinnvollerweise nicht noch mehr Worte, sondern ein instrumentales Stück, eine Sinfonia, bedächtig und elegant. Selbst wenn es kein voller instrumentaler Satz ist, verleihen die einleitenden Takte des Eingangschors dem Gottesdienst nach all den Kirchenliedern und Orgelzwischenspielen doch unversehens einen neuen, feineren Ton. Wenn diese „Vorspiele“ ertönen, verändert sich für die Gemeinde mit einem Mal der gesamte Charakter eines langen Gottesdienstes.
Mit etwas Wehmut denkt Organist Gerlach zurück an die Zeit vor bald 30 Jahren, im Mai 1723, als er gerade das Abitur gemacht hatte. Da wurde der Kapellmeister des Köthener Fürstenhofes zum neuen Kantor gewählt: Johann Sebastian Bach! Sensationell seine große zweiteilige Antrittskantate „Die Elenden sollen essen“ – eine solch herrliche Musik hatte man hier noch nie gehört! Bachs Nachfolger Gottlob Harrer, jetzt wenige Wochen im Amt, bemüht sich ja auch redlich; doch er ist eben nur Handwerker. An den Künstler Bach kann keiner heranreichen.
Damals hatten sich die Sänger der Thomasschule besonders angestrengt, um auf die Kantoratsbewerber einen guten Eindruck zu machen. Und Bach meinte dann wirklich, lauter kleine Profis vor sich zu haben. Entsprechend anspruchsvoll komponierte der Kapellmeister. Doch der gute Eindruck ließ sich nicht aufrechterhalten. Im Gegenteil, bald wurde deutlich: Es fehlte an allen Ecken und Enden: Die Stimmen der Chorknaben ließen viel zu wünschen übrig; oft waren sie heiser oder krank. Unbegabte Jungen wurden zur Schule zugelassen, und brauchbar fand der Kantor höchstens 17 Sänger und acht Instrumentalisten. Da die Chöre in den vier Leipziger Kirchen unterschiedlichen Anforderungen genügen müssten, seien – so Bach in einer Eingabe an den Stadtrat – insgesamt etwa 36 Sänger nötig, zusätzlich wenigstens 18 Instrumentalisten. Wie fantastisch hätte die sonntägliche Kirchenmusik geklungen, wenn der Kantor die gewünschten fähigen Sänger und Musiker zur Verfügung gehabt hätte.
Auch Kantor Johann Kuhnau, Bachs Vorgänger, hatte schon über das unzureichende Niveau der Aufführungen gemurrt, das selbst durch eine sorgfältige Vorbereitung nicht zu steigern gewesen sei. Schon nach wenigen Monaten musste Bach einsehen, dass das hohe, gewissermaßen aristokratische Niveau nicht zu halten war. Aber trotz einfacherer Tonsätze war die Kantate immer noch für die versammelte Gemeinde eine Gabe, die ihre Empfänglichkeit für das klanggewordene Wort steigern sollte.
Heute, wenige Monate nach Bachs Tod, läuft längst nicht alles rund. Aber Carl Gotthelf Gerlach wird an der Orgel wieder sein Bestes geben und am Schluss ein prächtiges Präludium mit Fuge von Bach spielen.
Folgerungen
Der protestantische Gottesdienst steht und fällt mit der Predigt und noch mehr mit der Kirchenmusik. Dementsprechend ist der Berufskantor auf möglichst hohe Qualität bedacht, die aber mitunter an den Finanzen scheitert. Die Kantate – eine Mischform aus Chorgesang, Soloarie, Rezitativ und Gemeindelied – ist mehr als ein ästhetischer Ohrenschmaus. Sie ist ein komponierter Zugang zum Evangelium. Es kommt darauf an, ob es dem Dirigenten, den Sängern und Instrumentalisten gelingt, den Hörern den Eindruck zu verschaffen: da wird etwas musiziert, was sie persönlich im Tiefsten angeht.
7. Szene: HATTIE JOHNSON – Sonntagsmesse einer afroamerikanischen Gemeinde in Chicago um 1970
Während die Einzugsprozession durch den Mittelgang zog, sangen Chor und Gemeinde mit Begeisterung, angetrieben durch einen Pianisten mit kraftvoller linker Hand. Jessica Brown trug das Kreuz hoch erhoben, gefolgt von ihrem Bruder Freddie und Adrian Washington mit großen weißen Kerzen. Der Chor in roten Gewändern, leuchtend auf sattbrauner Haut, folgte ihnen mit verzögertem Schritt, passend zum Gesang. Dann kam die alte Frau Williams, auf einen Stock gestützt, unter dem Arm das Lektionar. Diakon Tim und Pfarrer Charles, in Rot, Schwarz und Grün gekleidet, bildeten den hinteren Teil der Prozession.
Hattie Johnson hatte nicht die kräftigste Stimme in der Gemeinde, doch gewiss eine der aufrichtigsten. Wer hätte gedacht, dass sie einmal die Gesänge ihrer Großmutter in der katholischen Kirche singen würde? Großmutter hatte zur Christ First Pentecostal Church in der alten Siedlung gehört. Hatties Mutter ließ sie nie mit Großmutter zu der kleinen Kirche gehen. Stattdessen nahm sie Hattie zur Messe in der katholischen Kirche mit – Großmutter nannte sie gewöhnlich die „Kirche des weißen Mannes“. Sonntagnachmittags nach dem Gottesdienst jedoch hielt Großmutter Hattie auf ihrem Schoß und erzählte ihr alles über den Gottesdienst in First Pentecostal: die Predigt, die Geistesgaben, die sich an diesem Morgen zeigten, und besonders die Musik. Ach, wie sehr liebte Hattie doch die Lieder, die Großmutter ihr vorsang! Und keiner ist erstaunter als sie, dass man 50 Jahre später einige dieser Lieder in einer katholischen Kirche singen sollte.
Außer der Musik hat sich hier in St. Michael vieles geändert. In den Bänken gibt es zwar weiße und gelbe Gesichter, doch jedes Gesicht im Altarraum ist farbig wie Hatties. Sie wusste, es war nicht überall in Chicago so, und es gab noch viele Kirchen, wo alle Gesichter im Altarraum und in den Bänken weiß waren.
Die alte Frau Williams wusste die Prophetenlesung gekonnt vorzutragen. Die Überzeugungskraft ihrer Stimme hatte sie wohl aus dem jahrelangen Großziehen von Kindern daheim und dem Kampf um einen gerechten Lohn gewonnen. Der Ruf des Propheten nach Gerechtigkeit war noch glaubwürdiger, wenn er über die Lippen einer Frau wie Clarice Williams kam. Die Predigt von Pfarrer Charles war auch überzeugender als die meisten Predigten, die Hattie jahrelang gehört hatte. Wenn er predigte oder zur Gemeinde sprach, gaben die Leute gleich Antwort – und nicht nur „Amen“ oder „Preach it, pastor“. Manchmal widersprachen sie ihm auch oder brachten noch ein Beispiel oder gaben ihr persönliches Zeugnis. Er ließ sie dann einfach gewähren.
Auch viele andere Menschen sorgten dafür, dass Hattie sich in St. Michael wie zu Hause fühlte: Die einen backten das Brot für die Messe; die anderen besorgten die Kollekte. Wer auch immer nahe genug stand, fasste Hattie an der Hand, während sie das Vaterunser sangen. Der Kommuniongesang „Thank you, Lord“ war eines von Hatties Lieblingsstücken. Darrel, der Pianist, spielte es sehr langsam und rhythmisch, während die Mitglieder der Gemeinde nach vorne schritten, um aus den großen Weidenkörben das Brot zu empfangen und aus den Keramikkelchen zu trinken, die ihnen von den Kommunionhelfern gereicht wurden. Nach der Kommunion gab es immer viele Ansagen.
Danach erhob sich die Gemeinde zum Schlussgebet und zu Pfarrer Charles’ Segen. Der Chor stimmte das Schlusslied an: „Go ye therefore and teach all nations...“ Die Gemeinde stimmte bei der zweiten Strophe mit ein, als Jessica das Kreuz hochhob und die liturgischen Akteure durch den Mittelgang anführte. Hattie schloss sich der zwanglosen Prozession an, die sich ihren Weg zu Kaffee und Brötchen hinten in der Kirche bahnte, und sie dachte erneut an Großmutter und die Christ First Pentecostal Church. Wenn sie heute noch lebte, würde sie sich an St. Michael bestimmt auch zu Hause fühlen.
Folgerungen
Die Liturgiereform nach dem 2. Vatikanum hat die Trägerschaft der Liturgie an die Gemeinde zurückgegeben. Die tätige Teilnahme gleitet nicht in platten Aktivismus ab, wenn bestimmte Spielregeln eingehalten werden wie die sachgemäße Verteilung der Aufgaben nach Fähigkeiten und Charismen. Die Symbolik ist stimmiger geworden: Eucharistisches Brot soll auch als solches zu erkennen sein. Kelchkommunion ist der Normalfall. Der Gottesdienst soll zum Alltagsleben in Bezug stehen: Das zeigt sich in einer lebensnahen Homilie des Vorstehers, in den Mitteilungen aus dem Gemeindeleben, überhaupt darin, dass die Menschen in der Gemeinde sich beheimatet fühlen.
Schlussbetrachtung
Als Kontrast gegenüber dem lebhaften Gottesdienst in Chicago schließe ich mit einem Gedanken von Hildegard Kaulen (Wissenschaftsjournalistin) – vielleicht auch eine Perspektive für eine achte Szene im Jahr 2010. Sie schreibt: „Das Wort kann täuschen, die Stille nie. Nirgendwo habe ich Gott deutlicher gespürt als in der Stille. Seitdem wünsche ich mir mehr Mut zum Schweigen: in der Kirche, in der Theologie, im persönlichen Umfeld.“
Fazit
Die sieben erdachten Szenen von Gottesdiensten konnten nur ausschnitthaft die Plausibilität der christlichen Liturgie im Laufe der Jahrhunderte beleuchten. Vieles musste daher ungesagt bleiben, so etwa die breite Vielfalt unterschiedlicher Gottesdienstformen (Messfeier, andere sakramentliche Feiern, Stundengebet, Segensfeiern, Andachten).
Gleichwohl sollte mit den gewählten Schwerpunkten deutlich geworden sein, dass Liturgie sich einerseits ändern darf und muss. Sie steht nicht isoliert da, sondern ist eingefügt in ein spezifisches kulturelles Umfeld. Andererseits ist Liturgie nicht eine nach Belieben verfügbare Veranstaltung, vielmehr folgt sie bestimmten, überzeitlichen Spielregeln. Neue Formen sollten aus bestehenden gewissermaßen organisch herauswachsen.
So besteht die bleibende Herausforderung darin, die rechte Balance zu halten zwischen Bewahren und Erneuern, zwischen bewährter Überlieferung und behutsamem Fortschritt. Wenn allerdings der erforderliche Wandel ausbleibt, dann kann sich der „Reformstau“ auch in einer radikaleren Neuerung entladen. Man sollte jedoch in der Wertung einer Liturgiereform vorsichtig und historisch redlich bleiben. Die christliche Liturgiegeschichte hat eben nicht erst vor 1500 Jahren begonnen, sondern gerade schon in den ersten Jahrhunderten eine Fülle von Formen hervorgebracht.
Schließlich kommt es immer auch auf das Wie des Feierns an, auf die ästhetische Qualität. Dieselben Texte und Regeln können formalistisch und routinemäßig heruntergebetet werden, sie können aber auch – mit dem Musenkuss versehen – zum Leuchten und Klingen gebracht werden, so dass Liturgie als echte Glaubensfeier empfunden wird.
Vgl. Edward Foley: From Age To Age. How Christians Celebrated the Eucharist. Chicago (Liturgy Training Publications) 1991, 40f.
Hildegard Kaulen: Das Wort kann täuschen, das Schweigen nie, in: Johannes Röser (Hg.): Mein Glaube in Bewegung. Stellungnahmen aus Religion, Kultur und Politik. Freiburg – Basel – Wien 2008, 266.
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